Es ist eigentlich etwas Schönes, ein Tausendsassa zu sein. Leichter haben es aber die Spezialisten in unserer Gesellschaft. Wie kann ich trotzdem mein vielfältiges Potenzial entfalten, mich nicht verbiegen und erfolgreich als Generalist leben?
Darüber habe ich mit Tausendsassa Andreas Kaufmann gesprochen. Er erzählt von seinen Höhen und Tiefen und wie er den Mut gefunden hat, sich für die berufliche Neuorientierung zu entscheiden. Um sein Potenzial zu entfalten, hat er sich mit seinen inneren Widerständen und seinem eigenen Kritiker auseinandergesetzt. Jetzt sieht er den roten Faden in seinem Leben und ist glücklich, bewusst nach seiner Generalisten-Natur zu leben und dadurch sein volles Potenzial zu entfalten.
Inhalt:
Als ich erfahren habe, dass ich ein Tausendsassa bin
Sarah: Andreas, wie ging es Dir damals, als Du von mir gehört hast, dass Du ein Generalist bist, ein Tausendsassa, eine Scanner-Persönlichkeit? Warst du euphorisch oder vielleicht auch ein wenig frustriert oder ähnliches? Denn gerade, wenn man das neu erkannt hat, ist da häufig zunächst ein Gefühl der Abwehr gegen dieses Persönlichkeitsmerkmal.
Andreas: Ich fand es damals total spannend, das zu hören! Ich hatte mit einem Schlag einen Begriff für etwas, das ich schon lange in mir drin gespürt habe. Denn ich habe in meinem Leben immer viele bunte Interessen verfolgt und das hat mich einiges an Zeit gekostet.
Ich hätte auch einfach wie viele Menschen sagen können: Ich spezialisiere mich jetzt auf den und den Bereich, mache dies oder jenes beruflich, habe einen Angestellten-Job, und das ist mein Lebens-Fokus.
Für mich war da aber immer ein Gefühl von: „Ah, wann kann ich denn endlich hier raus, denn ich möchte ja irgendwie heute noch das und das andere machen.” Ich habe mich nie auf nur eine Sache spezialisieren können. Sobald ich das versuchte, hatte ich immer das Gefühl, ganz viele Dinge aufgeben zu müssen, die ich vielleicht gar nicht aufgeben wollte.
Zu erfahren, dass ich ein Tausendsassa bin bzw. eine Scanner-Persönlichkeit habe, hat mir ganz viel Stress genommen. Auf einmal war klar: Ich muss mich nicht spezialisieren und mich für eine Sache entscheiden. Ich darf mein Leben und mein Berufsleben so gestalten, wie es für mich passt, und mein volles Potenzial entfalten.
Wie ich es geschafft habe, mein Potenzial zu entfalten
Sarah: Wie hast Du es geschafft, Dein volles Potenzial zu entfalten und so zu leben, dass es zu Deiner Generalisten-Natur passt?
Andreas: Ich weiß noch, dass da ganz oft ein Widerstand in mir war, das zu tun, was ich gerne wollte. Zum Beispiel bei meiner Yogalehrer-Ausbildung: Da hat mich meine innere Stimme lange vom Tun abgehalten und mir zugeflüstert: Was soll denn das bringen, was möchtest du überhaupt mit der Ausbildung machen, und so weiter. Dann aber saß ich in einem Info-Workshop zur Ausbildung und habe so stark gespürt, dass ich das machen möchte, dass ich es einfach gemacht habe. Egal, was es mir bringt!
Ich habe nicht länger tage-, wochen- oder monatelang überlegt, ob das jetzt das Richtige ist. Sondern ich habe mir die innere Erlaubnis ausgesprochen, mein Potenzial zu entfalten und meinem Bedürfnis nachzugehen. Und wenn sich dabei herausstellt, dass es nicht das Richtige war, ist es ja nicht schlimm. Dann mache ich das nächste.
Ich kann mich nicht spezialisieren, denke aber, ich müsste
Sarah: Wir wissen oft, was wir ausprobieren und lernen wollen oder was wir spannend finden. Trotzdem verbieten wir es uns, weil es wieder etwas Neues wäre und vielleicht nicht zu dem passt, was wir „eigentlich“ machen. Ich glaube, das liegt daran, dass sich ungefähr 90 % der Bevölkerung spezialisieren, weil sie eine Persönlichkeit haben, zu der das passt. Nicht so wir Generalisten, Tausendsassa, Menschen mit Scanner-Persönlichkeit!
Dann hört man Sätze wie:
- „Ich habe gedacht, Du machst X, wieso machst Du denn jetzt auf einmal Y?”
- „Wo kommt denn die Idee jetzt her?”
- „Wie, Du kannst Dich nicht entscheiden?!”
- „Wie, Du machst schon wieder was Neues?!”
Als Generalist denke ich dann, ich müsse auch so sein, und verbiete mir ein Springen von einem Thema zum nächsten, auch wenn es bedeutet, dass ich dadurch nicht mein Potenzial entfalten kann.
Wir Tausendsassa könnte viele Jobs machen, wenn man uns nur ließe
Andreas: Da würde ich mir von der Gesellschaft mehr Durchlässigkeit wünschen, gerade wenn es um den Bereich „Jobs“ geht. Ein konkretes Beispiel von mir: Eine Personalberaterin kam in einem Gespräch mal auf die Idee, dass ihr Job total gut zu mir passen würde, nämlich Menschen in beruflichen Umbruchsituationen beraten. Dann jedoch fragte sie sofort nach meiner Erfahrung in diesem Bereich. Ich sagte: „Na ja, wir haben ja gerade darüber gesprochen, dass ich keine habe. Aber Sie haben selbst erkannt, dass der Job trotzdem ganz gut passen würde.”
Es war also sofort eine Hürde da, die man typischerweise in Deutschland findet: Man braucht den gleichen Job, auf den man sich bewirbt, bereits mit mindestens 5 Jahren Berufserfahrung im Lebenslauf, vielleicht sind es manchmal auch 3 Jahre, wenn man Glück hat, aber man kann nicht einfach mal morgen einen anderen Job machen. Was ich durchaus verstehe: Ich möchte auch nicht im Krankenhaus von einem Arzt operiert werden, dem gerade gestern eingefallen ist, dass er nicht mehr Künstler ist, sondern Arzt. Aber ich finde doch, dass es viele Berufe gibt, bei denen die Einstiegshürden sehr hochgelegt werden.
Sarah: Was oft nicht gesehen wird, ist, dass wir Scanner-Persönlichkeiten viele Fähigkeiten mitbringen, die Spezialisten manchmal nicht haben. Wie zum Beispiel Weitblick, die Fähigkeit sich schnell einzuarbeiten und in neue Sachverhalte einzudenken, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, eine rasche Auffassungsgabe und so weiter. Das sollte in Einstellungsgesprächen und Bewerbungen viel mehr zum Tragen kommen.
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Gut auswählen und Potenzial entfalten
Sarah: Andreas, Du hast gerade Deine Festanstellung im Marketing gekündigt und Dir die Domain bunterraum.de gesichert. Ich kann mir vorstellen, dass diese Entscheidung nicht einfach war. Wir Generalisten haben ja so viele Ideen im Kopf und Schwierigkeiten aus der Fülle der Möglichkeiten und der spannenden Dinge auszuwählen.
Andreas: Ja, das stimmt! Die Idee kam mir irgendwann während eines sehr langweiligen Business-Meetings. Auf einmal war diese Idee da, und ich hatte ein Blatt Papier und ein paar Farben vor mir liegen und auf einmal so eine Art Skribble, einen Entwurf meines Logos. Inhaltlich war mir klar, dass es um den Menschen gehen soll, also ein Angebot mit Yoga, Thai-Yoga-Massage und Coaching. Ich möchte Menschen die Möglichkeit geben, ihr eigenes Sein neu zu entdecken, damit sie Chancen ergreifen, neue Dinge ausprobieren und ihr Potenzial entfalten.
Dann aber kamen viele Ideen gleichzeitig, was ich als nächstes machen soll. Deshalb habe ich mir einen kleinen inhaltlichen und zeitlichen Plan gemacht: Der nächste, einfachste und logischste Schritt ist jetzt, ein Template für die Webseite zu erstellen und das Angebot in Wort, Schrift und Bild niederzuschreiben.
Mut für die Entscheidung
Sarah: Es war sicherlich nicht leicht, die Festanstellung zu kündigen und in die Selbständigkeit zu starten, obwohl du weißt, was Du gerne tun möchtest. Da hast Du vielen Scanner-Persönlichkeiten etwas voraus, die zwar abwechslungsreiche Berufe suchen, aber nicht wissen, für welchen sie sich entscheiden sollen.
Andreas: Ja, das war ein sehr langer und schmerzhafter Prozess. Ich gebe die finanzielle Sicherheit auf und auch die Dinge, die ich irgendwann einmal gerne gemacht habe oder immer noch gerne mache. Als Entscheidungshilfe habe ich mir die Frage gestellt: Was passiert, wenn alles so bleibt, wie es ist und ich mein Potenzial nicht entfalte? Und dann war die Entscheidung klar, dass ich jetzt einfach die Dinge ausprobieren möchte, die mir am Herzen liegen.
Sarah: Wo hast Du denn den Mut hergenommen?
Andreas: Gute Frage! Wahrscheinlich ist er irgendwo in mir drin und nur versteckt gewesen. Ich glaube, es ist bei solchen Entscheidungen eine Mischung aus Mut und Neugier und auch ein bisschen Schmerz. Es gibt einen Kipppunkt, an dem die aktuelle Situation mehr wehtut als die Unsicherheit, die auf mich wartet, wenn ich etwas verändere. Dann fällt es einem auf einmal leichter, etwas zu verändern.
Klarheit über sein Potenzial finden
Sarah: Meditierst Du, um klarer zu sehen?
Andreas: Ja, ich mache Yoga oder Atemübungen. Das hilft mir immer wieder, stärker zu meinem eigenen Kern vorzudringen und herauszufinden, was ich eigentlich will. Ich gehe in die Stille, die ich in mir finde. Ich schalte sozusagen in einen anderen Gang. Man kann als Mensch den ganzen Tag im Autopilot sein und von A nach B rennen, total beschäftigt sein und nicht eine Sekunde bewusst. Zu meditieren gibt mir da die Möglichkeit, viel bewusster wahrzunehmen, was gerade in mir drinnen los ist und wo es als nächstes hingeht.
Sarah: Das ist gerade für uns Generalisten, Scanner-Persönlichkeiten bzw. Tausendsassa sehr hilfreich, um herauszufinden, was wir wollen und wer wir wirklich sind.
Andreas: Unser Geist reagiert ganz oft wie ein Hund: Ein Stöckchen wird geworfen, der Hund rennt hinterher. Gerade, wenn man vielbegabt oder generalistisch veranlagt ist, hat man die Tendenz, äußere Reize schnell aufzunehmen. Dadurch wird man jedoch total abgelenkt von dem, wo man selbst wirklich hinwill. Durch meine Meditationspraxis möchte ich wie ein Löwe werden: Ein Löwe liegt unter dem Baum, und wenn ein Stöckchen geworfen wird, guckt er vielleicht, rennt aber nicht gleich hinterher und trifft in Ruhe eine Entscheidung.
Potenzial entfalten dank Meditation
Sarah: Legst Du in Deiner Meditation einen bestimmten Fokus? Zum Beispiel: Ich möchte heute hingucken, was ich beruflich als nächstes machen will.
Andreas: Nein, ich gebe mir bewusst kein Thema vor. Das Ziel ist vielmehr, diese Erdung und diese Verwurzelung zu spüren. Denn ich weiß, je ruhiger ich bin, desto mehr bin ich bei mir. Je mehr ich bei mir bin, desto mehr entsprechen mir auch die Dinge, die ich tue, und die Entscheidungen, die ich treffe.
Sarah: Brauchst Du dafür eine tägliche Routine?
Andreas: Ich bin als Tausendsassa nicht so gut in Routinen… Aber eine Meditations-Routine zu haben, ist schon mein Ziel, obwohl man nicht unbedingt eine braucht. Wenn man mal eine schlechte Phase hat, merkt man jedoch, dass es gut gewesen wäre, man hätte eine Route gehabt, denn sie erdet und stabilisiert einen einfach enorm.
Sarah: Diese Erfahrung habe ich auch schon gemacht. Sobald ich einmal nicht meditiere, dann habe ich nach einer Weile richtig das Bedürfnis, das wieder zu tun. Wenn es zu einem Bedürfnis wird, braucht man keine Routine mehr.
Andreas: Es ist ein schöner Moment, wenn der Körper einem am Morgen sagt, dass er Lust hat, erst mal auf die Matte zu gehen, bevor ich mir einen Kaffee koche.
Es gibt keine richtigen oder falschen Entscheidungen
Sarah: Was würdest Du jemandem mitgeben, der gerade vor einer beruflichen Neuorientierung oder ähnlich schwerwiegenden Entscheidung steht wie Du?
Andreas: Man sollte den Druck rausnehmen und sich nicht sagen, dass man etwas verändern muss, nur weil sich gerade alle verändern. Und man muss Entscheidungen auch nicht immer heute, jetzt und sofort treffen, auch wenn es sich vielleicht so anfühlt: Es ist nicht so.
Ich würde jedem Menschen mit Scanner-Persönlichkeit stattdessen dazu raten, in die Erfahrung zu gehen, also auszuprobieren und zu spüren, wie sich etwas anfühlt, auch im Körper: Wie fühlt es sich an, wenn ich ein Bild male, wenn ich Vorhänge nähe, wenn ich mein Auto umbaue, wenn ich Yoga lehre oder coache.
Ich habe die letzten Jahre sehr viel in Ausbildungen verbracht. Das hat mir in dem Moment keine Umsätze gebracht, aber ich habe gemerkt, ob es das Richtige für mich ist oder ob ich lieber doch etwas anderes machen möchte. Ich finde auch den Gedanken sehr beruhigend, dass Entscheidungen wieder rückgängig gemacht werden können. Dass Entscheidungen nicht immer für ein ganzes Leben getroffen werden müssen.
Sarah: Das ist wahr, wir können uns immer wieder neu entscheiden. Und häufig hilft mir auch der Gedanke – gerade bei uns Vielbegabten – dass es eine Entscheidung zwischen vielen guten Dingen ist: Egal, für was ich mich entscheide, das meiste sind gute Optionen. Ich muss nicht das Nonplusultra finden.
Andreas: Genau so sehe ich das auch. Es gibt keine richtigen oder falschen Entscheidungen, es gibt eben einfach nur Situationen. Und dann kann ich entscheiden, ob ich nach links oder rechts gehe. Aber ich glaube auch, egal, ob ich links oder rechts gehe, ob ich meinen Umweg gehe, am Ende kommt man trotzdem auf seinem eigenen individuellen Weg an.
Dann schiebt sich der Weg beim Gehen unter die Füße. Ich glaube, das ist viel wichtiger als ewig irgendwo stehen zu bleiben und zu überlegen, in welche Richtung man geht.
Ich darf mein Potenzial so leben, wie ich will
Sarah: Ich finde es oft schwierig, sich von den Vorstellungen und Erwartungen anderer zu lösen. Die Gesellschaft, die Leute um uns herum, wie Ehepartner, Eltern oder auch die Stimmen in mir, sagen ja oft, was ich tun sollte oder müsste. Was hilft Dir da?
Andreas: Ja, ich erlebe auch sehr viel Druck, weil die Welt irgendwie immer einen Plan von einem erwartet. Wenn man eine Entscheidung trifft, kommt sofort die Frage: „Und jetzt?”. Aber vielleicht gibt es ja noch gar kein „und jetzt”, sondern man ist jetzt erst mal gerade da, wo man ist, und guckt von dort weiter. Da hilft mir nur, mich davon freizumachen.
Ich weiß, dass ich nicht für die Gesellschaft lebe, sondern mein Leben so leben kann und darf und sollte, wie es für mich gut ist. Wenn ich dann in ein oder zwei Jahren merke, dass ich etwas Neues machen möchte, dann treffe ich eine neue Entscheidung und verändere wieder etwas. Davon hält mich ja keiner ab. Ich kann theoretisch auch wieder genau das machen, was ich vorher gemacht habe. Und ich bin überzeugt davon, dass alle Erfahrungen, die ich sammle, mich reicher und größer machen.
Sarah: Lieber Andreas, danke für das inspirierende Gespräch!